Das optimistische Manifest
96 THESEN ZUR WIRTSCHAFT IM 21. JAHRHUNDERT

 

Anmerkung: Dieser Text wurde erstmals veröffentlicht auf der Titelseite der letzten Ausgabe der Zeitung „Net-Business“ im Juli 2001. Meine Mitautoren damals waren Anja Dilk, Sven Scheffler, Martin Tofern sowie der Rest der Net-Business-Redaktion. Beim Aufräumen einer alten Festplatte habe ich das Dokument  jetzt wiederentdeckt. Mir scheint, es passt auch heute noch.

Marbella, im Februar 2007

Detlef Gürtler

Der Internet-Hype ist am Ende.
Das Net-Business hat gerade erst begonnen.
Zukunft entsteht, indem Menschen sie machen.

SO JUST DO IT!


1. Der Mensch ist das Maß allen Fortschritts.

2. Jeder Mensch ist einzigartig. Seine Wünsche, seine Träume, seine Ziele, sein Wissen, seine Kreativität, sein Arbeitsvermögen sind einzigartig.

3. Jeder Mensch verdient einzigartige Produkte, einzigartige Arbeit, einzigartige Bildung.

4. Das 19. Jahrhundert war das der Unternehmer. Das 20. Jahrhundert war das der Manager. Das 21. Jahrhundert wird das der Wissensarbeiter.

5. Im 20. Jahrhundert hat sich die Produktivität der Industriearbeit verfünfzigfacht. Im 21. Jahrhundert kann sich die Produktivität der Wissensarbeit verfünfzigfachen.

6. Unternehmen brauchen Geld und Köpfe, Finanzkapital und Humankapital, um zu produzieren. Aber der Engpassfaktor entscheidet, zu welchen Bedingungen produziert wird. Und der Engpassfaktor wird immer öfter das Humankapital sein.

7. Es kommt nicht mehr darauf an, etwas so gut zu können wie andere auch. Es kommt darauf an, für sich herauszufinden, was man besser kann als jeder andere.

8. Es gibt keinen Bildungs-Abschluss mehr. Es gab ihn übrigens nie.

9. Die Zahl der Berufseinsteiger nimmt ständig ab. Jeder einzelne wird damit wertvoller.

10. Weil das Lernen nie aufhört, werden die Universitäten massive Konkurrenz von anderen Bildungseinrichtungen bekommen. Dass kann ihnen nur gut tun.

11. Lehrer vermitteln Informationen. Gute Lehrer erzeugen Wissen.

12. Nur, wer Wissen produziert, wird Lehrer genannt werden – egal, wo er arbeitet.

13. Aus dem passiven Akt des Arbeit-Nehmens wird ein aktiver Akt – die Investition des eigenen Humankapitals.

14. Eigentum verpflichtet, sagt das Grundgesetz. Das gilt auch für geistiges Eigentum.

15. Um Erfahrung zu haben, muss man nicht alt sein. Um Lust auf Neues zu haben, muss man nicht jung sein. Um Erfolg zu haben, muss man beides verknüpfen.

16. Jobholder Value siegt über Shareholder Value.

17. Humankapital wird so wertvoll und individuell sein, dass viele Menschen sich an der Börse notieren lassen könnten.

18. Von denen, die sich an der Börse notieren lassen könnten, werden nur die wenigsten das wollen.

19. Viele der derivativen Produkte, die zur Absicherung von unternehmerischen Risiken erfunden wurden, werden auch für die Absicherung persönlicher Risiken eingesetzt werden.

20. Nationale Institutionen werden nationale Finanzkrisen nie verhindern können. Hierfür Vorsorge zu treffen, bleibt Aufgabe der internationalen Staatengemeinschaft.

21. Futures-Märkte für Inflationsraten, BIP-Wachstum, Staatsdefizit und Arbeitslosenquote ermöglichen der Politik eine weit realistischere Einschätzung der Folgen ihres Handelns als die heute üblichen Meinungsumfragen und Zeitungskommentare.

22. Unternehmen werden auch weiterhin Profit machen müssen. Und das ist gut so.

23. Bisher waren die Menschen eine Ressource der Unternehmen. Im 21. Jahrhundert werden die Unternehmen eine Ressource der Menschen.

24. Unternehmen agieren zwar marktwirtschaftlich, werden aber planwirtschaftlich geführt. Im 21. Jahrhundert werden sie auch marktwirtschaftlich geführt werden.

25. Im 20. Jahrhundert kollabierten die planwirtschaftlichzentralistischen Diktaturen. Im 21. Jahrhundert werden planwirtschaftlich-zentralistische Unternehmen kollabieren.

26. Wer Wissen managen möchte, wird scheitern.

27. Wer glaubt, über das Wissen seiner Beschäftigten verfügen zu können, nur weil er ihnen ein Gehalt zahlt, irrt sich.

28. Wer das Wissen seiner Beschäftigten nutzbar machen möchte, wird unternehmensinterne Märkte für Wissen einrichten müssen.

29. Im 21. Jahrhundert werden die Beschäftigten entscheiden, was sie wie tun möchten – nicht ihre Vorgesetzten.

30. Arbeitsweise und Arbeitsatmosphäre der New Economy werden noch viele Jahre stilbildend sein und praktiziert werden – allerdings nur von Menschen auf der Suche nach Herausforderungen und Abenteuern.

31. Die New Economy hat blitzlichtartig gezeigt, wie viel Geld das Wissen einzelner Menschen wert sein kann. Was am Anfang des 21. Jahrhunderts übertriebene Einzelfälle waren, wird im Laufe des 21. Jahrhunderts zur Normalität werden.

32. Irgendwann werden sich sogar Behörden auf die Bedürfnisse ihrer Kunden einstellen.

33. Unternehmen sind keine geschlossenen Gebilde mehr, sondern offene Netzwerke. Der Kunde ist Teil dieses Netzwerks.

34. Das Internet wird die gesamte Wirtschaft revolutionieren. Wie vor ihm schon die Dampfmaschine, die Eisenbahn, die Elektrizität, das Automobil, der Tarifvertrag, das Telefon, der Container und der Computer. Und wie nach ihm noch ein paar andere Innovationen mehr.

35. Okay, der Internethype war ein Goldrausch. Aber ohne den Goldrausch von 1848 keine Levi’s, kein San Francisco, kein Hollywood, kein Silicon Valley.

36. Der Erfolg des Internets beruht auf seiner Offenheit und Neutralität. Diese gilt es, um jeden Preis zu bewahren.

37. Das Internet ist nicht die Revolution der Wirtschaft – es ist das Instrument dafür.

38. Es wird immer ein paar Leute geben, die mit dem Bau von Instrumenten Geld verdienen. Viel mehr Leute werden ihr Geld verdienen, indem sie sich dieser Instrumente bedienen.

39. Das Internet wird sich aus der Fesselung an den Computer befreien. Es wird da sein, wenn wir es brauchen – auf der Fernbedienung, im Telefon, im Geldbeutel.

40. So wie die Welt nicht demokratisch regiert werden kann, kann sie auch nicht demokratisch vernetzt werden. Größe erzeugt Machtzentren und Hierarchien.

41. So wie Demokratie im Stadtviertel gelebt werden kann, können Newsgroups und Communitys in völliger Freiheit existieren.

42. Das Internet ist universal genug, um Großes und Kleines, Hierarchie und Freiheit, nebeneinander zuzulassen.

43. Manche Ideen werden besser, wenn alle daran arbeiten. Manche nicht. Manche Software wird besser, wenn sie ein Open-Source-Produkt ist. Manche nicht.

44. Im Zweifel für offene Software. Aber nur im Zweifel, nicht aus Prinzip.

45. Content im Internet wird immer Geld kosten. Content im Internet wird immer kostenlos sein.

46. Wer will, wird jederzeit und überall erreichbar sein.

47. Wer will, wird jederzeit und überall die Informationen bekommen können, die er gerade braucht.

48. Wir werden Dienstleister dafür bezahlen, dass uns nur die Werbung erreicht, die uns tatsächlich interessieren könnte.

49. Die Welt wird immer lebenswerter. Wer hätte schon gern im Deutschland von 1900 gelebt? Und wer sollte sich im Jahr 2100 wünschen wollen, in unserer Zeit gelebt zu haben.

50. Freizeit, Arbeitszeit und Lernzeit gehen grenzenlos ineinander über.

51. Wer die Freizeit und Arbeitszeit lieber voneinander abgrenzen will, kann das tun – nach seinen eigenen Wünschen.

52. Warum sollen Menschen gerade dann am härtesten arbeiten, wenn sie viel lieber mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen möchten?

53. Warum sollen Menschen gerade dann mit der Arbeit aufhören, wenn ihre Erfahrung und ihre Kontakte sich richtig auszahlen?

54. Es gibt immer neue Technologien, mit denen sich Unternehmen und Staaten Kontrolle über die Privatsphäre verschaffen können. Und es gibt immer neue Technologien, mit denen Menschen ihre Privatsphäre verteidigen können.

55. Der Schutz der Privatsphäre wird zum handelbaren Gut.

56. Neue Technologien produzieren neue Regeln. Aber Menschen haben die Möglichkeit, diese Regeln zu beeinflussen.

57. Computer werden lernen, kreativ zu sein. Aber das wird dauern.

58. Der Fortschritt der Informationstechnologie gerät frühestens ins Stocken, wenn Computertechnologie so effizient ist wie das Leben selbst. Und das dauert.

59. Maschinen sind dazu da, den Menschen zu dienen.

60. Roboter bleiben das bestgeeignete Medium, um den aktuellen Forschungsstand der Künstlichen Intelligenz zu demonstrieren. Und sie bleiben ein mehr putziges als nützliches Spielzeug.

61. Es gibt keine Hardware-Entwickler mehr. Hardware entwickelt sich selbst.

62. Es gibt keine Software-Entwickler mehr. Software entwickelt sich selbst.

63. Die Menschen leben immer länger, und immer länger ohne schwere Krankheiten. Aber der Staat wird nicht mehr für alle medizinischen Leistungen aufkommen können.

64. Die stärkste Versuchung – und die größte Gefahr – für die Menschheit liegt im Sieg über den Tod

65. Nur ein paar Verrückte werden den Wunsch haben, sich selbst zu klonen.

66. Viele Paare werden sich für ihre Kinder die bestmögliche genetische Ausstattung wünschen. Es ist die Aufgabe der Politik, die Realisierung eines Teils dieser Wünsche zu verbieten. Es ist die Aufgabe der Gesellschaft, einen größeren Teil dieser Wünsche zu ächten.

67. Medikamente werden individuell auf die jeweilige Konstitution, Krankengeschichte und DNS-Ausstattung abgestimmt.

68. Die Gentechnik ist eine Technologie, die auch 15 Milliarden Menschen ernähren kann. Sie muss nur genutzt werden dürfen.

69. Eine Technologie, die 15 Milliarden Menschen ein menschenwürdiges Leben sichern könnte, wird es nie geben. Dies zu erreichen, ist keine wissenschaftliche, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe.

70. Fortschritt ist nur Fortschritt, wenn er allen dient. Das zu erreichen, ist die Aufgabe von Staat, Gesellschaft und Gewerkschaft.

71. Die Entstehung einer privilegierten Kaste der Wissenselite ist eine der größten Gefahren für das Gemeinwesen.

72. Es wird die Aufgabe einer Gewerkschaft neuen Typs sein, die Segnungen der Wissensgesellschaft einem möglichst großen Kreis zu erschließen.

73. Wenn die real existierenden Gewerkschaften ihre Chance in der Wissensgesellschaft nicht nutzen, werden sie zur Lobby einer immer kleiner werdenden Berufsgruppe – etwa so, wie heute der Bauernverband.

74. Schule wird Spaß machen.

75. Im Jahr 2050 werden wir als soziales Minimum einstufen, was heute dem Wohlstand der oberen Mittelschicht entspricht.

76. Es wird als unsozial gelten, Einkommen zu besteuern.

77. Es wird als sozial gelten, Ausgaben und Erbschaften zu besteuern.

78. In 30 Jahren werden wir in etwa wissen, wie sehr die genetische Ausstattung die Potenziale eines Menschen bestimmt. Dann wird es heiß diskutiert werden, ob es sozial gerecht ist, die Menschen nach dem Potenzial ihrer DNS zu besteuern.

79. Technologie bedeutet Wandel. Wir sollten neugierig, kritisch, offen und zuversichtlich damit umgehen.

80. Neue Technologien wirken immer bedrohlich. Und immer faszinierend. Wie sie sich auswirken, hängt von uns ab.

81. Jede Generation hat das Recht auf Technologien, die ihre Eltern nicht mehr begreifen.

82. Es wird einen Gegenentwurf zum liberalen Kapitalismus geben. Und nur weil er irgendwann demnächst in China entwickelt werden dürfte, muss er nicht unbedingt schlechter sein.

83. Dem abendländisch-protestantischen Networking-Prinzip – "Weil wir so gut zusammen arbeiten, haben wir eine gute Beziehung" – wird ein mächtiger Gegenpart erwachsen: das chinesisch-konfuzianische Guanxi-Prinzip – "Weil wir eine gute Beziehung haben, arbeiten wir gut zusammen."

84. Wer die Globalisierung bekämpft, kämpft nicht nur gegen die Macht der Konzerne, sondern möglicherweise für den Zaun um seinen Schrebergarten.

85. Nur wer nationale Kulturen achtet und akzeptiert, kann global erfolgreich agieren.

86. Jeder kann etwas. Er wird es auch tun dürfen. Er muss es nur wollen.

87. Wir kommen aus dem Jahrhundert der Massenproduktion. Wir gehen in das Jahrhundert der Individualproduktion.

88. Die Gewinnmargen bei Standardprodukten werden rasiermesserdünn. Wer es schafft, seine Produkte zu individualisieren, wird im Geschäft bleiben können.

89. Kleinstproduzenten im eigenen Stadtviertel werden eine Authentizität und Individualität bieten, wie sie Fabrikprodukte nie erreichen können.

90. Die Rolle, die im 20. Jahrhundert die Unternehmensberatung spielte, wird im 21. Jahrhundert die Arbeitnehmerberatung spielen.

91. Service kennt keine Öffnungszeiten. Wir werden Dienstleistungen dann in Anspruch nehmen, wenn wir sie brauchen – und dort, wo wir sie brauchen.

92. Das wachstumsträchtigste Segment im Tourismusmarkt wird der Weltraumtourismus.

93. Geschäfte, die im wesentlichen auf dem Unwissen der Kunden beruhen, sind keine mehr.

94. Es kommt nicht darauf an, Produkte zu besitzen. Es kommt darauf an, Produkte nutzen zu können, wie und wann man will.

95. Nichts liest sich so gut wie ein gutes Buch.

Und als Bonus-These:

96. Alles ändert sich immer – und keiner weiß irgend etwas.